Ausgang der Kommunalwahlen in der Türkei am 31.03.2019

Ausgang der Kommunalwahlen in der Türkei am 31.03.2019

Kurzanalyse von Yunus Ulusoy (Stand 01.04.2019)

 

Der türkische Staatspräsident Erdoğan hat die Kommunalwahlen als richtungweisend für die weitere Entwicklung des Landes verstanden. Das Ergebnis, wie es sich, ungeachtet laufender Einsprüche, am Tag nach der Wahl darstellt, bedeutet nun einen Dämpfer für seine Politik und signalisiert wachsende Unzufriedenheit der Wählerinnen und Wähler, nicht zuletzt aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung der Türkei. Erdoğans AKP hat, trotz einer geringfügigen Verbesserung des Ergebnisses bei den Stimmen insgesamt, das Wahlziel, die türkischen Metropolen zu regieren, verfehlt.


1994 startete Erdoğans steile politische Karriere als Oberbürgermeister Istanbuls. 25 Jahre später könnte Istanbul wiederum eine Zäsur bedeuten, indem er und die AKP in der größten Stadt der Türkei ihre kommunale Machtbasis verlieren, wonach es nach derzeitigem Stand aussieht. Unter der Voraussetzung, dass Einsprüche beim Hohen Wahlrat nicht zu anderen Ergebnissen führen, gingen zudem nicht nur wie bisher Izmir, sondern auch die Hauptstadt Ankara an die Opposition, ebenso wie die Millionenstädte Antalya und Adana. Damit dominiert die oppositionelle CHP nun in weiten Teilen der Ägäis und der Mittelmeerküste.


Tabelle 1: Wahlbeteiligung

Wahlindikator Werte
Wahlurnen insgesamt 194.678
Geöffnete Wahlurnen 192.742
Geöffnete Wahlurnen in Prozent 99,01
Anzahl der Wahlberechtigten 57.093.410
Abgegebene Stimmen 47.970.021
Wahlbeteiligung in Prozent 45.970.921

Quelle: Anadolu-Agentur


Bemerkenswert ist, dass in einem autoritär regierten Land mit ungleichen politischen Wettbewerbsbedingungen demokratisch legitimierte Machtwechsel in den größten Städten offenbar noch möglich sind. Damit ist das Ergebnis auch als Lebenszeichen der türkischen Demokratie zu verstehen, zumal die Wahlbeteiligung mit 84,5 Prozent für Kommunalwahlen auf einem sehr hohen Niveau liegt, zwar bei theoretisch bestehender Wahlpflicht, die aber praktisch nicht durchgesetzt wird und deren Verletzung nur mit unbedeutenden Sanktionen belegt ist. Allerdings lag die Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen 2014 mit 89,1 Prozent sogar noch höher.


Tabelle 2: Vergleich der Stimmenanteile der Parteien – Kommunalwahlen 2019 und Parlamentswahlen 2018

Parteien Werte in Prozent
Kommunalwahlen 2019 Parlamentswahlen 2018
AKP 44,4 42,6
MHP 7,3 11,1
CHP 30,1 22,6
iYi-Partei 7,5 10,0
HDP 4,2 11,7
Sonstige 6,6 2,1

Quelle: Anadolu-Agentur, eigene Berechnungen


Tabelle 3: Wahlergebnisse nach Anzahl der Bürgermeister

Parteien Anzahl der Bürgermeister
Metropolprovinz Provinz Gemeinde Dorf/Vorort Insgesamt
AKP 15 24 536 220 746
CHP 11 10 192 34 246
MHP 1 10 146 70 227
HDP 3 5 50 11 69
Sonstige 2 31 13 46
iYi-Partei 18 3 21

Quelle: Anadolu-Agentur


Wahlbündnisse wurden von der AKP und der nationalistischen MHP im Vorfeld der letzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen eingeführt, um den Parlamentseinzug der MHP trotz der 10-Prozent-Hürde zu sichern. Das Bündnis trat unter der Bezeichnung „Volksallianz“ bei den letzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Bei den Kommunalwahlen fehlt für ein Wahlbündnis jedoch die gesetzliche Grundlage, weshalb sich diejenigen Parteien, die sich als politische Bündnispartnerinnen zusammengetan haben, in jeder Provinz und jeder Ortschaft einigen mussten, welcher Kandidat von welcher Partei für das jeweilige Amt antreten soll. Diese Einigung gelang erwartungsgemäß zwischen AKP und MHP relativ schnell, so dass z.B. die MHP in Istanbul, Ankara und Izmir auf eigene Kandidaten verzichtete. Im Gegenzug wurden ihr, gemessen an ihrer politischen Bedeutung, überproportional viele aussichtsreiche Bürgermeisterkandidaturen von der AKP überlassen, weshalb sie als eine der Wahlsiegerinnen aus den Kommunalwahlen hervorging. 


Das oppositionelle Wahlbündnis „Allianz der Nation“ aus republikanischer CHP und der konservativ-nationalen İYİ-Partei tat sich, wie schon bei den nationalen Wahlen, schwer, seine Kooperation stringent im ganzen Land durchzusetzen. Zudem verzichtete diesmal die islamisch-konservative Saadet-Partei auf eine Bündnisbeteiligung. Einige prominente Kandidaten, die von der CHP nicht aufgestellt worden waren, traten zudem für die Splitterpartei DSP an. Mit den Stimmen von Saadet-Partei und DSP wäre der Vorsprung des CHP-Kandidaten Ekrem Imamoğlu in Istanbul höher ausgefallen. Die Integration der HDP in ein Wahlbündnis von CHP und İYİ-Partei war ideologisch schwer vermittelbar. Die HDP verzichtete in den westlichen Provinzen auf eigene Kandidaten, um den Sieg der Volksallianz-Kandidaten von AKP und MHP zu verhindern. Erdoğan befeuerte die nationalistische Stimmung im Land und bezichtigte CHP und İYİ-Partei, mit „Terroristen“ aus der HDP zu paktieren. 



Was aber sind gesellschaftlichen Ursachen für die Verluste der AKP in den Metropolregionen des Landes?


In der Wirtschafts- und Sozialpolitik wurden der AKP seit jeher in besonderem Maße Erfolge und Kompetenzen zugeschrieben. Die aktuelle Wirtschaftskrise hat dieses Vertrauen beschädigt. Erdoğan konnte seine Versprechen aus dem Präsidentschaftswahlkampf 2018 nicht erfüllen: Weder wurden die Inflationsrate einstellig, noch das Leistungsbilanzdefizit strukturell verringert, Haushaltsdisziplin geübt oder neue Arbeitsplätze geschaffen. Das Bruttoinlandsprodukt ist im vierten Quartal 2018 um 3,0% geschrumpft, die Inflationsrate kletterte auf 20%. Die offizielle Arbeitslosenquote beträgt 13,5 Prozent. Die wirtschaftlich verflochtenen Städte sind von dieser Krise stärker betroffen als die ländlichen Regionen der Türkei, wobei zugleich in den jungen, urbanen, gebildeten Milieus Relativierungsstrategien oder Verweise auf angebliche ausländische Verschwörungen als Krisenursache besonders schlecht verfangen.


Dabei haben die Polarisierungspolitik Erdoğans und die fortwährende Diskreditierung demokratischer Machtwechsel quasi als Bedrohung der Existenz der Türkei womöglich nicht nur in progressiven urbanen Milieus für wachsende Ablehnung gesorgt. Letztendlich funktioniert die Politik der gesellschaftlichen Spaltung, die der Staatspräsident im Sinne seines Machterhalts verfolgt, in den Metropolen offenbar nur bedingt. Konservative und säkulare Bürgerinnen und Bürger leben hier eng miteinander, die Betroffenheit von der wirtschaftlichen Krise teilen sie und sind gemeinsam auf ernsthafte wirtschafts- und sozialpolitische Lösungen angewiesen. Gerade in Istanbul und Ankara waren zudem Oppositionskandidaten angetreten, die auch für Konservative wählbar erschienen.


Die beträchtlich große kurdische Bevölkerung auch in den Metropolen jenseits des Südostens dürfte sich aufgrund der Kriminalisierung der Kurdenpartei HDP weiter von Erdoğan ab- und der CHP zugewendet haben. Allerdings gelang der AKP in den zwangsverwalteten Ortschaften im mehrheitlich kurdisch besiedelten Südosten des Landes, ihren Stimmenanteil zu erhöhen oder sogar Bürgermeisterämter von der HDP zu gewinnen.


Die Demokratie in der Türkei ist also noch lebendig, obwohl die AKP enorme mediale und wirtschaftliche Ressourcen (Dominanz in den Medien, Interventionen in den Markt mit Subventionen etc.) zur Machterhaltung und -ausweitung eingesetzt hat – Maßnahmen, deren strategische Absicht offensichtlich von vielen Wählerinnen und Wählern durchschaut worden ist. 


Dabei kämen mit neuen Stadtspitzen in Istanbul und Ankara neue Persönlichkeiten auf die politische Bühne, die auch zu einer Wiederbelebung und einer größeren Attraktivität der CHP beitragen können. Zugleich wird ohne kommunale Basis das Regieren für Erdoğan, trotz seiner Machtfülle, schwerer, und weitere politische Gleichschaltung wird gebremst.



Kontakt

Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung

Yunus Ulusoy

Altendorfer Straße 3

45127 Essen

Tel: 0201-3198 105

E-Mail: ulusoy@zfti.de

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